Dieser letzte Moment

Etwas ist passiert. Auf einen Schlag ist auch der letzte Zuschauer wieder hellwach. Doch auf der Bühne regt sich nichts. Nicht einmal der leiseste Furz im Raum. Und man fragt sich, ob Anna Peschke in ihrem Plastikfolienkokon nicht irgendwann doch die Luft ausgeht.

Da ist er wieder, dieser eine, dieser letzte Moment. Freunden des modernen Theaters ist er inzwischen ein alter Bekannter. Das Bühnenlicht ist noch aus, Zuschauer und Performer sind komplett still. Die einzige Bewegung kommt von den rotierenden Fragezeichen über den Köpfen.

Gedankentranskription:
Zuschauer: Kommt da noch was?
Performer: Wann klatschen diese Deppen endlich?

Es ist einer dieser wundersamen Momente, in denen die vierte Wand komplett eingeebnet wurde und jede Bewegung, jedes laute Einatmen, jedes Schuhkratzen, jedes Hüsteln oder Lachen eine ungebremste Kommunikation zwischen Zuschauer und Performer darstellt. Es ist ein peinlicher Moment. Und unglaublich intim.
Die Spannung in der Luft beruht auf Gegenseitigkeit. Die Zuschauer beobachten nicht mehr allein den Performer, sondern verstärkt einander. Der Performer wartet endlich auf seine Erlösung.

Und wir werden einmal mehr aus unseren gewohnten Bahnen entrückt. Im “normalen” Leben bekommen wir auf Fehler in der Regel ziemlich unvermittelt die Rechnung präsentiert. Im Theater ist auf einmal jeder wieder Anfänger. Vorausgesetzt, dass keiner der Zuschauer die Inszenierung bereits gesehen hat, weiß niemand so genau, wann nun genau das Ende erreicht ist. Und durch verfrühtes Klatschen blamieren will sich keiner.
Dieses Jahr werden wir bei Arena mit derartigen Situationen verstärkt konfrontiert. Sowohl bei Anna Peschke, wie auch bei Suka Off war dieser letzte Moment eine Ewigkeit für sich. Und Dramazone versetzte die Zuschauer im MGT durchgehend in eine Situation, in der zwischen Aktion und Nichtaktion, zwischen Hinschauen oder Wegschauen/Rausgehen entschieden werden muss.

Vielleicht ist das für manchen Zuschauer zuviel an Innen- und Außenreflexion.  Vielleicht sind dieses Jahr zuviele nackte Männer auf der Bühne. Vielleicht wünscht sich mancher die Zeit der narrativen Inszenierungen zurück. Vielleicht ist manch einer auch zu müde zum Reflektieren.

Aber vielleicht wird ein anderer in einer Zeit, in der Menschen im öffentlichen Nahverkehr verletzt werden, ohne dass jemand eingreift, in der am einen Ende der Welt das Leben von zigtausend Menschen verstrahlt wird, und am anderen dennoch kein Grund gesehen wird, über andere Energielösungen nachzudenken, weil hier bei uns, in unserer eigenen kleinen Nachbarschaft, unserem schönen kleinen Heim ja alles noch okay ist, vielleicht wird bei einem anderen in dieser Zeit der kleine Hebel umgelegt, der unseren gesunden Menschenverstand aus seinem Winterschlaf erwachen lässt.

Vielleicht ist dann endlich die Frage beantwortet, warum Theater noch lange nicht abgelöst ist.
Und dann will ich ihn nicht vermissen, diesen letzten Moment.

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