Zeitreise zum Sündenfall

In seinem 1986 veröffentlichten Aufsatz “Grundlagenkrise” bemerkte Lyotard beiläufig ein zentrales Problem dieser ganzen Kulturwissenschaften, die wir hier betreiben. Die ganze Philosophie und Wissenschaft beziehe sich eigentlich nur noch auf sich selbst und beschreibt Gedankengebilde über neue Gedankengebilde, um sie durch weitere Gedankengebilde zu dekonstruieren. Also zugegeben, dafür gibt es einige gute Gründe, und tatsächlich spricht einiges dafür dass wir uns hauptsächlich in selbstgeschaffenen Begriffswelten bewegen. Immerhin wäre es ziemlich schwer anzugeben, welche physikalische Dichte oder Farbe, sagen wir, eine Wirtschaftskrise, das Zeitungswesen, die Umweltverschmutzung oder auch nur “die Dämmerung” besitzt. Aber ab und zu, zumindest als Horizont dieser ganzen Begriffe, gibt es auch noch die Dinge. Und es stimmt wohl, dass sich die Philosophie nie sonderlich für die Dinge interessiert hat. Man kann aber beschließen, als Projekt sozusagen, mal kurz ohne das Wort “Diskurs” auszukommen, und sich auf den ganz tiefen Sündenfall einzulassen. Villem Flusser, einer der ohnehin suspekten Schriftsteller, hat sich zum Beispiel in einem weniger bekannten Spätwerk namens ‘Dinge und Undinge’ auf eine solche Schattenfahrt begeben. Und da sich ohne die Dinge nur wenig über Anna Peschke sagen lässt heute, und ich aber durchaus gerne etwas darüber sagen möchte, kann man ja mal kurz mitfallen. Diskurs ist dann nachher wieder.
Ein solcher Gedanke wäre dann, dass beides nicht so ganz geht: Als Positivist gehe ich von einer empirisch gegeben Welt aus, so ganz eindeutig, mit Molekülen und Atomen und dergleichen, die ich dann passiv rezipiere – Wachstafel, all das. Als Konstruktivist gehe ich umgekehrt davon aus, dass das alles Unsinn ist, weil die Wirklichkeit eh nur ein Konstruktionsakt ist, mit dem jeder sich seine eigene Welt der Wahrnehmung bastelt. Angenommen aber, dass vor dieser klaren Subjekt-Objekt-Trennung erst mal verschiedene Angebote an Welt da sind, auf die man dann irgendwie reagiert. Dann kommt der Heidegger, der auf dem Feldweg im Schwarzwald der Stimme des Seins lauscht, und er raunt irgendwas von einem drolligen philosophischen Terminus namens ‘Zeug’. Dinge haben dann etwas Zeughaftiges an sich, und wahrscheinlich zeugen sie auch, denn bei Heidegger, da nichtet das Nichts und da west das Sein, und alles ist am machen. Wenn das Zeug nun zeugt, dann ist es nicht nur die Summe seiner physikalischen Eigenschaften. Das Zeug ist erstmal ein Angebot aufgrund der Sachen, die man mit ihm tun kann, die sich als Apelle und Forderungen artikulieren. Und das ist nicht nur die eine Nutzfunktion, die kulturell am etabliertesten daherkommt. In dem Eimer kann man ja nicht nur Putzwasser transporteren (hab ich nie gemacht!), sondern auch Müll in der Zimmerecke überdecken, man kann draufsteigen und auf dem Schrank die Pizzaschachtel verstauen, man kann hinein reiern, oder eben einen sogenannten “Eimer” bauen. Und die Treppenstufe bietet sich danach zum Hinsetzen an, nicht aufgrund kultureller Zuschreibungen, Diskursphänomene und meiner Intentionalität. Heidegger würde dann sagen, man setzt sich drauf weil sie für uns zeug-haftig ist, Lyotard würde vom ‘Feld’ reden, Waldenfels vom Apell oder Widerfahrniss – aber eigentlich geht es nur darum, dass sie sich halt gerade dafür anbietet, und Anderes zum Beispiel nicht. Der viel zu niedrige Steinboden zum Beispiel, und kalt noch dazu. Manche Sachen, manche Dinge, strukturieren erst mal unser Wahrnehmungsfeld so um, dass wir überhaupt erst auf die Idee kommen irgendwelche Anwendungen für sie zu suchen. Manche Dinge fordern auf, stoßen ab, provozieren, sind ganz schön ekelig oder ziemlich spannend. Oder man kann coole Dinge mit ihnen basteln. Kurt Koffka, einer der Gründerväter der Gestaltpsychologie, meinte dass Dinge grundsätzlich nur zwei wirkliche Eigenschaften besitzen: Anzuziehen (Abstand verringern) oder abzustoßen (Abstand vergrößern). Das klingt ziemlich esoterisch, aber man muss schon sagen dass es verdammt coole Dinge gibt. Zugegeben, dass war jetzt wirklich ein relativ offensichtlicher Diskursbeitrag. Aber. Wenn man sich noch tiefer versündigen will, dann kann man mal den Raum beiseite lassen, und das was die Dinge mit ihm so machen. Der Raum ist eine ziemlich kluge Erfindung dafür, dass sich nicht Alles am gleichen Ort befindet. Aber die Zeit ist noch viel verrückter. Und was die Dinge da alles anrichten können, das ist dann echt der Gipfel!

“Unsere Umgebung ist eine Insel aus Gegenwart”, steht geschrieben (bei Flusser also), alles an ihr ist uns gegenwärtig. Auf diese Insel kommen immer wieder Dinge zu, sie tauchen auf aus den Nebeln des Nichts an den Gestaden unserer Insel. Und diese Nebel heißen Zukunft. (das hat schon so einen mythologischen Klang, ein bisschen Genesis, ich bin der Herr!) Und aus dieser Insel fallen immer wieder Dinge ab, sie tauchen unter in den Nebeln des Nichts, und diese Nebel heißen Vergangenheit. So tritt zum Beispiel ein neues Objekt aus unserer subjektiven Zukunft heraus, und in diesem Zwischenmoment ist das Ding pures Abenteuer. Alles bloß, um kurz (oder länger) eine bloße Nutzfunktion darzustellen, und dann als Abfall wieder herauszufallen und in unserer subjektiven Vergangenheit zu verschwinden (selbst wenn der Abfall materiell gesehen noch wochenlang im Zimmer liegt). Soweit alles klar: Zeit ist nur eine abgeleitete Eigenschaft an der Oberfläche der Dinge. Das verrückte ist dann aber, wenn wir versehentlich in ein Zeitloch treten und plötzlich romantisches Kerzenlicht wünschen. Dann taucht der Abfall “Flasche”, der eigentlich zum Altglas sollte, in einem gewaltigen temporalen Erbeben, das selbst Obi-Wan Kenobi erschüttert hätte, aus der Vergangenheit heraus in das Licht der Gegenwart zurück. Und die Kerze brennt in der Flasche! Romantische Flasche der Gegenwart, wie die Pinball-Kugel mit nem Tilt aus dem Off der Zeit herausgefischt. Wenn der Abfall zurückkehrt, dann hat sein Apell einen ganz anderen Charakter als der Imperativ seines objektiven Nutzens. Wenn der Abfall zurückkehrt, dann kann er fast alles machen! Dann hat er das Abenteuer der unbestimmten Zukunft zurück, das wie die elektrostatischen Blitze nach einer Terminator-Zeitreise um ihn herum zucken. wenn schon mythische Erklärungsmuster, dann auch mit Zeitreisen und T-800.
Ich weiß nicht. Vielleicht hat das alles doch etwas mit Ideengeschichte zu tun. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne eine nicht zu leugnende Faszination für das Kulturgut ‘SciFi-Trash’ die Euphorie empfunden hätte, inmitten eines Star Trek-artigen Temporal-Labors zu sitzen, in dem eine unberechenbare Experimentatorin Elektronenblitze aus chronaler Energie schwingt, an der Oberfläche der Dinge Vergangenheit in Zukunft transformiert, Abfall in Abenteuer.
Aber davon wissen die Dinge zum Glück nichts, und deswegen lassen sie sich auch auf solche abenteuerlichen Projekte ein.

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